Was wäre, wenn Amerika nie entdeckt worden wäre?

Ein faszinierendes Gedankenspiel! Also — was wäre, wenn Amerika nie entdeckt worden wäre? Nehmen wir an, dass Christoph Kolumbus 1492 nie über den Atlantik gesegelt wäre oder auf seiner Reise nicht auf Land gestoßen wäre. Vielleicht wurde seine Expedition abgesagt, vielleicht sank sein Schiff im Sturm, vielleicht überzeugte er die spanische Krone nie von seinem Plan. Entscheidend ist: Der europäische Kontakt mit der Neuen Welt findet nicht statt. Kein Spanien, kein Portugal, kein England, keine Wikinger, keine Franzosen – Amerika bleibt bis ins 21. Jahrhundert hinein unentdeckt und isoliert.
Dann entfaltet sich die Geschichte der Welt mit einem radikal anderen Takt.
Die Alte Welt blutet weiter
Ohne das Silber von Potosí und ohne die riesigen Ressourcen Mittel- und Südamerikas gerät das spanische Weltreich nie zur dominanten Supermacht des 16. Jahrhunderts. Spanien bleibt eine regionale Macht, erschöpft durch seine Kriege mit den Mauren, aber ohne den Goldregen aus der Neuen Welt auch bald finanziell ausgemergelt. Das Osmanische Reich bleibt länger auf dem Vormarsch, da keine europäische Großmacht genug Ressourcen hat, um ihm effektiv zu widerstehen. Konstantinopel bleibt fest in osmanischer Hand, und die Kontrolle über den Handel im östlichen Mittelmeer sichert den Osmanen noch für Jahrhunderte ökonomische Dominanz.
Afrika und Asien werden zum neuen Spielfeld
Europäische Mächte, auf der Suche nach Gewürzen, Edelsteinen und neuen Märkten, richten ihre Energie noch stärker auf Afrika und Asien. Die Konkurrenz um Indien, das Gewürzarchipel und China führt zu einem früheren und heftigeren Kolonialkampf zwischen England, Frankreich, Portugal und den Niederlanden. Ohne die Ablenkung durch Amerika entwickeln sich in Afrika starke hybride Kulturen – eine Mischung aus afrikanischen Königreichen und europäischen Handelsstützpunkten, aber ohne die massive Sklavenausbeutung für die Plantagenwirtschaft Amerikas. Der transatlantische Sklavenhandel, wie wir ihn kennen, findet kaum oder gar nicht statt. Millionen Menschen bleiben in Afrika, und afrikanische Reiche wie das Kongo- oder Songhai-Reich erreichen möglicherweise ein völlig anderes Niveau von politischer Stabilität und technologischer Entwicklung.
In Europa fehlt der Druckausgleich
Ohne die Möglichkeit, nach Amerika auszuwandern, stauen sich in Europa die Spannungen. Die religiösen Konflikte nach der Reformation eskalieren heftiger. Der Dreißigjährige Krieg dehnt sich vielleicht aus – länger, brutaler, mit mehr Flüchtlingsströmen, weil keine „Neue Welt“ als Ziel existiert. Die Aufklärung verläuft ebenfalls anders. Ohne den kulturellen Schock, den die Entdeckung Amerikas bedeutet – neue Völker, neue Religionen, ein ganz anderer Blick auf die Menschheit – bleibt das europäische Weltbild provinzialisierter, kirchentreuer, weniger kritisch.
Und was passiert in Amerika?
Hier, auf dem Kontinent, der nie entdeckt wurde, blühen indigene Kulturen weiter. Die Inka errichten vielleicht ein panandesisches Reich, das sich über Jahrhunderte stabilisiert, dezentralisiert, industrialisiert. In Mesoamerika könnten die Nachfolger der Azteken, nun ohne äußeren Druck, eine Renaissance erleben – Religion, Wissenschaft und Landwirtschaft wachsen zusammen. In Nordamerika organisieren sich die Irokesen-Konföderation und andere Stämme zu eigenen politischen Bündnissen, lernen vielleicht selbst das Metallhandwerk und entwickeln Schriftsprachen. Auch ohne europäische Kontakte entstehen Handelsnetzwerke zwischen Nord und Süd, die auf lange Sicht möglicherweise selbst interkontinentale Entdeckungen anstreben.
Sprung ins 21. Jahrhundert
Wir schreiben das Jahr 2025. Die Welt ist bipolar: Auf der einen Seite ein europäisch-asiatischer Block, in dem China und Indien führende Technologienationen geworden sind, auf der anderen Seite ein amerikanischer Kontinent, in dem große indigene Reiche existieren – modern, aber völlig anders entwickelt. Städte wie Tenochtitlan, Cusco oder Cahokia sind pulsierende Metropolen mit anderen Alphabeten, anderen Maschinen, anderen Religionen. Der erste Kontakt mit Europa erfolgt vielleicht durch ein peruanisches Schiff, das Afrika erreicht, oder ein Satellit aus dem Andenreich, der über Europa erscheint. Der Kulturschock ist nun umgekehrt.
Und dann beginnt eine neue Geschichte: Nicht die Eroberung Amerikas, sondern der Dialog zwischen zwei vollständig fremden Welten, auf Augenhöhe…