Ein Naher Osten ohne den Ersten Weltkrieg: Ein Reich im Wandel statt Kolonialer Zerschlagung


Stellen wir uns eine Welt vor, in der der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre. Ein winziges Detail, vielleicht eine diplomatische Einigung zwischen den Großmächten, hätte den Konflikt verhindert. Diese alternative Realität hätte massive Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten, der zur damaligen Zeit noch stark vom Osmanischen Reich dominiert wurde.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Osmanische Reich ein großes, aber bereits brüchiges Imperium. Es umfasste den heutigen Nahen Osten, einschließlich der arabischen Gebiete, die sich zunehmend nach Selbstbestimmung sehnten. Doch ohne den Ersten Weltkrieg bleibt das Osmanische Reich in einer Art langsamen Verfall bestehen, anstatt durch den Krieg gewaltsam zerbrochen zu werden. Die Araber, die während des realen Ersten Weltkriegs einen Aufstand gegen die osmanische Herrschaft unterstützten – vor allem ermutigt durch die Versprechen von Großbritannien auf Unabhängigkeit – erleben nun eine ganz andere Dynamik.

Ohne den Krieg gibt es keine geheime Sykes-Picot-Vereinbarung zwischen Großbritannien und Frankreich, in der sie den Nahen Osten unter sich aufteilen. Ebenso gibt es keine Balfour-Erklärung, die den Zionisten ein nationales Heim in Palästina verspricht. Stattdessen bleibt die Region in einem zähen Ringen zwischen den lokalen arabischen Eliten und der osmanischen Regierung gefangen, ohne die massive Einmischung der westlichen Mächte.

Der arabische Nationalismus wächst dennoch weiter. Der Traum von einem geeinten arabischen Reich wird immer lauter, aber das Osmanische Reich ist fest entschlossen, seine territoriale Integrität zu bewahren. Mit geschickter Diplomatie und vereinzelten Reformen versucht die osmanische Führung, den arabischen Raum enger an sich zu binden. Es kommt zu vorsichtigen Zugeständnissen, beispielsweise mehr Autonomie für lokale Herrscher wie die Haschimiten in Mekka und Medina. Städte wie Kairo, Damaskus und Bagdad entwickeln sich zu Zentren des politischen Denkens und des Widerstands, aber der Kampf um die Unabhängigkeit verläuft langsamer und weniger blutig.

Interessanterweise wären auch die imperialistischen Mächte Großbritannien und Frankreich, die nach dem Ersten Weltkrieg historische Schlüsselfiguren im Nahen Osten wurden, weit weniger dominant in der Region. Ohne den Krieg fehlt ihnen der Vorwand, ihre Einflusszonen zu etablieren. Statt Kolonialverwaltungen und Mandatsgebiete bleiben die Europäer eher wirtschaftlich und diplomatisch im Spiel, ohne jedoch direkte Kontrolle auszuüben. Dies könnte dem arabischen Raum mehr Zeit geben, seine eigenen staatlichen Strukturen zu entwickeln und einen eigenen Weg zu finden.

Ein anderer Aspekt, der sich dramatisch verändert hätte, ist der Aufstieg des Zionismus. Ohne den Ersten Weltkrieg gibt es keinen massiven Exodus europäischer Juden nach Palästina und keine britische Unterstützung für ein jüdisches Nationalheim. Die jüdische Einwanderung nach Palästina verläuft langsamer und weniger konfliktbeladen, da sowohl die osmanische Führung als auch die arabische Bevölkerung stärker in der Region verankert bleiben. Palästina könnte zu einem multiethnischen und multireligiösen Gebiet mit einer langsamen, aber friedlicheren Entwicklung werden.

Es ist auch wahrscheinlich, dass der Nahe Osten mehr Zeit hätte, seine Ölreserven zu nutzen, bevor sie unter europäische Kontrolle geraten. Ohne die starke Präsenz britischer und französischer Mächte könnten lokale Herrscher, besonders in der arabischen Halbinsel, frühzeitig die wirtschaftliche Kontrolle über ihre Ressourcen erlangen. Dies hätte enorme wirtschaftliche und politische Implikationen, da der Reichtum aus dem Öl die Region früher stabilisieren und ihr Gewicht in der Weltwirtschaft erheblich erhöhen könnte.

In dieser alternativen Welt des 20. Jahrhunderts bleibt der Nahe Osten unter dem Einfluss des osmanischen Reiches, kämpft jedoch allmählich für mehr Autonomie und Eigenständigkeit. Statt eines zerschmetterten arabischen Raumes, der von westlichen Mächten aufgeteilt wurde, sehen wir eine langsame, aber stetige Entfaltung der arabischen Identität und des Nationalismus. In dieser stabileren geopolitischen Landschaft könnten Kriege wie der arabisch-israelische Konflikt, die Iran-Irak-Kriege und der Aufstieg extremistischer Gruppen entweder milder verlaufen oder gar nicht entstehen.

Vielleicht wäre diese Region mit all ihren natürlichen Ressourcen und kulturellen Reichtümern zu einem zentralen Akteur der Weltpolitik aufgestiegen, lange bevor der westliche Kolonialismus tiefe Narben hinterlassen hätte.