Weniger Staat, mehr Freiheit? Die alte Idee vom „Nachtwächterstaat“ erlebt ein Comeback

Ein Staat, der sich heraushält
Was wäre, wenn der Staat sich fast aus allem zurückziehen würde – aus Wirtschaft, Sozialpolitik, Bildung, vielleicht sogar aus der Gesundheitsversorgung? Wenn er sich darauf beschränken würde, Recht und Ordnung zu sichern, Grenzen zu schützen und sonst weitgehend die Finger vom Leben der Bürger zu lassen?
Diese Vorstellung klingt heute radikal, doch sie ist älter, als man denkt. Schon im 18. Jahrhundert forderten Denker wie John Locke oder Adam Smith, dass der Staat vor allem den Rahmen schaffen soll, in dem Freiheit möglich ist – nicht aber selbst zum Hauptakteur wird. Der Bürger, so die Idee, ist selbst verantwortlich für sein Leben, sein Glück und seinen Wohlstand. Der Staat wacht nur darüber, dass niemand die Rechte des anderen verletzt.
Der Traum vom „Nachtwächterstaat“
Im 19. Jahrhundert bekam diese Vorstellung einen Namen: der Nachtwächterstaat. Ein Staat, der nur nachts die Straßen kontrolliert, damit niemand einbricht – aber tagsüber die Menschen in Ruhe lässt. Die Metapher steht für ein minimalistisches Staatsverständnis: Sicherheit, Justiz und Verteidigung sind Pflichtaufgaben, alles andere ist Privatsache.
In einem solchen System gäbe es kaum Steuern, weil der Staat nur wenige Aufgaben finanziert. Schulen, Straßen, soziale Absicherung oder Kulturförderung würden nicht vom Staat organisiert, sondern durch private Initiativen, Unternehmen oder Stiftungen. Wer helfen will, hilft freiwillig. Wer vorsorgen will, spart selbst.
Das klingt nach maximaler Freiheit – aber auch nach einem Leben, in dem jeder auf sich gestellt ist. Anhänger sagen: Nur so entsteht echter Fortschritt. Kritiker entgegnen: Freiheit ohne ein Mindestmaß an sozialer Verantwortung führt zu Ungleichheit und Instabilität.
Der moderne Libertarismus
Heute erlebt die Idee in abgeschwächter Form ein Wiederaufleben. In einer Zeit, in der viele Menschen das Gefühl haben, dass der Staat immer tiefer in ihr Leben eingreift, übt der Gedanke „weniger Staat, mehr Selbstbestimmung“ wieder eine große Anziehung aus.
Vertreter des sogenannten Libertarismus sehen Steuern als notwendiges Übel, das so gering wie möglich gehalten werden sollte. Sie wollen eine klare Trennung zwischen individueller Verantwortung und staatlicher Fürsorge. Der Staat soll nicht erziehen, nicht umverteilen, nicht regulieren – sondern nur die Regeln des Zusammenlebens garantieren.
Bekannte Ökonomen wie Friedrich August von Hayek oder Milton Friedman haben diese Idee im 20. Jahrhundert weiterentwickelt. Sie sahen im freien Markt das beste Korrektiv gegen staatliche Willkür. Wo der Wettbewerb herrscht, meinten sie, entsteht Effizienz – wo der Staat regiert, lähmt Bürokratie.
Zwischen Ideal und Realität
Ganz ohne Staat geht es allerdings kaum. In modernen Gesellschaften gibt es Bereiche, die sich nur schwer rein privat organisieren lassen – etwa Gesundheitsversorgung, Katastrophenschutz oder öffentliche Infrastruktur. Vollständige Selbstverantwortung funktioniert nur, wenn auch alle die gleichen Startchancen haben.
Einige Länder kommen dem Ideal des Minimalstaats näher als andere. Die Schweiz setzt auf extreme Dezentralisierung: Gemeinden entscheiden selbst über Steuern und Ausgaben. In Singapur herrscht wirtschaftliche Freiheit bei gleichzeitig starker öffentlicher Ordnung. In den USA wiederum gibt es Bundesstaaten wie Texas oder Florida, die mit niedrigen Steuern und wenig Regulierung experimentieren.
Trotzdem bleibt die zentrale Frage offen: Wie viel Staat ist nötig – und wie viel Freiheit ist gesund?
Ein altes Ideal mit neuer Aktualität
Die Idee vom „Nachtwächterstaat“ ist heute weniger ein konkreter Plan als ein Kompass. Sie erinnert daran, dass staatliche Macht Grenzen braucht und dass Freiheit ein Wert ist, den man nicht leichtfertig aufgeben sollte.
Vielleicht geht es gar nicht darum, den Staat abzuschaffen, sondern ihn wieder an seine eigentliche Rolle zu erinnern: der Hüter der Freiheit zu sein, nicht ihr Ersatz. Denn dort, wo der Staat alles regelt, wächst selten der Mut, selbst Verantwortung zu übernehmen – und ohne diesen Mut verliert Freiheit ihren Sinn.