Verheiratet mit 13: Das vergessene Kapitel amerikanischer Kindheit

Verheiratet mit 13: Das vergessene Kapitel amerikanischer Kindheit

Wer an Kinderehen denkt, denkt an Länder des globalen Südens, an streng religiöse Gesellschaften oder fragile Staaten mit schwachen Gesetzen. Kaum jemand vermutet sie inmitten westlicher Demokratien – und doch existieren sie bis heute in den Vereinigten Staaten. Noch immer dürfen in weiten Teilen der USA Minderjährige heiraten. Und das oft mit gesetzlichen Erlaubnissen, die erschreckend wenig Schutz bieten.

Zwar gilt offiziell in den meisten Bundesstaaten ein Mindestalter von 18 Jahren für die Eheschließung, doch zahlreiche Ausnahmeregelungen untergraben diese Schwelle. Mit richterlicher Genehmigung oder elterlichem Einverständnis – oft sogar bei Schwangerschaften – können Mädchen und Jungen bereits mit 16, 15 oder gar 13 Jahren verheiratet werden. In Einzelfällen wurden sogar Ehen von Zehnjährigen dokumentiert. Die rechtliche Lücke ist kein Versehen, sondern historisch gewachsen. Und sie wird bis heute von Familien, Religionsgemeinschaften und nicht selten auch von Tätern genutzt.

In den letzten 25 Jahren wurden in den USA schätzungsweise über 300 000 Minderjährige verheiratet – in den meisten Fällen Mädchen mit deutlich älteren Männern. Viele dieser Ehen entstanden unter Druck: Teenagerinnen, die ungewollt schwanger wurden und aus Angst oder familiärer Scham verheiratet wurden, um „die Ehre“ zu retten. In einigen Fällen handelte es sich um organisierte Verbindungen zwischen jungen Mädchen und Erwachsenen, die durch das Heiratsrecht eine strafrechtliche Verfolgung wegen sexuellen Missbrauchs umgehen konnten. Die Ehe als legales Schlupfloch.

Die Folgen sind tiefgreifend. Mädchen, die so jung verheiratet werden, brechen häufig die Schule ab, geraten in wirtschaftliche Abhängigkeit und erleben überproportional oft häusliche Gewalt. Der emotionale und psychische Druck dieser frühen Bindung hinterlässt Spuren – besonders, wenn die Mädchen keine Möglichkeit haben, sich zu trennen. In mehreren Bundesstaaten dürfen minderjährige Ehepartnerinnen keinen eigenen Mietvertrag unterschreiben, kein Konto eröffnen oder allein einen Anwalt beauftragen. Das Gesetz schützt sie nicht – es hält sie fest.

Erst in den letzten Jahren beginnt sich etwas zu bewegen. Mehrere Bundesstaaten haben inzwischen Gesetze verabschiedet, die die Ehe unter 18 ohne Ausnahme verbieten. Washington, D.C. sowie Staaten wie New York, New Jersey oder Delaware gehören dazu. Doch in 30 anderen Staaten sind Kinderehen weiterhin legal – darunter auch traditionell konservative Regionen, aber auch ländliche Teile progressiver Bundesstaaten. Selbst dort, wo Reformen in Aussicht stehen, stößt das Thema auf Widerstand: Konservative Gruppen, religiöse Organisationen oder Politiker argumentieren mit „individueller Freiheit“, „Elternrechten“ oder „kulturellen Werten“.

Überlebende wie Naila Amin, die mit 15 einem älteren Cousin verheiratet wurde, kämpfen heute öffentlich für ein vollständiges Verbot. Ihre Stimme ist laut, eindringlich – und längst nicht allein. Sie und viele andere sprechen für eine Generation von Mädchen, die ihre Kindheit verloren haben, weil der Staat sie nicht schützen konnte oder wollte. Ihre Geschichten zeigen, dass es kein fernes Problem ist, sondern ein systemisches: eine stille Realität, die mitten in der westlichen Welt existiert – und der lange zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Mark Petersen