„Kriegstüchtig?“ – Zwischen Sicherheitsvorsorge und schleichender Kriegsgewöhnung

Seit Monaten scheint sich etwas im Tonfall der deutschen Politik und Medienlandschaft zu verändern. Was früher bestenfalls hinter verschlossenen Türen besprochen wurde, steht heute öffentlich zur Debatte: Deutschland soll „kriegstüchtig“ werden. In Regierungserklärungen, Interviews und Nachrichtenformaten ist die Sprache von der Möglichkeit eines Krieges nicht länger hypothetisch, sondern wird als realistisches Zukunftsszenario dargestellt. Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht vom „Ernstfall“, auf den man sich vorbereiten müsse. Generalinspekteur Carsten Breuer warnt vor Angriffen, für die man bereit sein müsse. Und in der Bevölkerung stellt sich zunehmend die Frage: Was passiert hier gerade?
Ein Land rüstet sich – nach Jahrzehnten des Friedens
Unbestritten ist: Der russische Angriff auf die Ukraine hat Europa erschüttert. Er hat gezeigt, dass Frieden auch auf unserem Kontinent keine Selbstverständlichkeit ist. Für viele kam dieser Schock verspätet – vor allem in einem Land wie Deutschland, das sich seit den 1990er-Jahren fast ausschließlich mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr beschäftigt hat, nicht aber mit klassischer Landesverteidigung. Die Konsequenz ist ein dramatischer Kurswechsel. Die Bundeswehr wird neu ausgerichtet, Milliarden fließen in Ausrüstung, Strukturreformen, Übungen. Schulen und Behörden werden wieder für Notfälle sensibilisiert. Zivilschutz, Vorratshaltung, Blackout-Szenarien – alles Themen, die lange in Archiven lagen, rücken wieder ins Zentrum.
Man kann das als überfällige, pragmatische Sicherheitsvorsorge betrachten. Ein demokratischer Staat muss sich verteidigen können, wenn er bedroht wird. Und man kann kaum bestreiten, dass Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten die Verteidigungsbereitschaft eher verdrängt als gepflegt hat. In dieser Perspektive ist das aktuelle Handeln eine notwendige Reaktion auf eine veränderte Weltlage – kühl, sachlich, rational.
Die neue Rhetorik – Ein anderer Ton, ein anderes Gefühl
Doch etwas ist anders als früher. Es ist nicht nur die Politik, die sich neu sortiert – es ist auch die Sprache, mit der über Sicherheit gesprochen wird. Dass ausgerechnet ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister von „Kriegstüchtigkeit“ spricht, irritiert viele. Der Begriff ist schwer, martialisch, aggressiv konnotiert. Er deutet nicht auf Vorsorge, sondern auf Vorbereitung. Und er wirft die Frage auf, ob wir uns nicht langsam an etwas gewöhnen sollen, das bisher außerhalb unserer Lebensrealität lag: die Normalität des Krieges.
Diese Rhetorik erzeugt ein neues Klima. Was früher als pazifistische Naivität galt, erscheint heute fast wie ein Störfaktor in einer zunehmend sicherheitsgetriebenen Debatte. Wer fragt, ob militärische Aufrüstung wirklich der einzige Weg sei, steht schnell im Verdacht, „realitätsfern“ oder „blauäugig“ zu sein. Dabei ist diese Frage wichtiger denn je. Denn wenn der Diskurs über Sicherheit fast ausschließlich über militärische Mittel geführt wird, verändert das nicht nur die politische Agenda – es verändert auch das Denken.
Psychologische Vorbereitung oder nötige Ehrlichkeit?
Kritiker sprechen von einer schleichenden psychologischen Kriegsgewöhnung. Nicht im Sinne von Propaganda, sondern eher wie ein langsames, systematisches Absenken der Schwelle: Die Vorstellung eines Krieges auf deutschem Boden – noch vor wenigen Jahren undenkbar – ist heute ein Szenario, das in Talkshows, Ministerreden und Behördenpapieren auftaucht. Die Warnung wird zur Routine. Und mit jeder Wiederholung wird aus der Ausnahme ein denkbarer Zustand.
Die Frage ist: Wozu dient diese Rhetorik? Soll sie aufklären oder konditionieren? Bereiten sich Politik und Gesellschaft tatsächlich nüchtern auf alle Eventualitäten vor – oder wird hier ein Bedrohungsgefühl erzeugt, das sicherheitspolitische Maßnahmen leichter durchsetzbar macht? Wenn das Reden über Krieg zur Normalität wird, verändert sich auch das, was in der Gesellschaft als „zumutbar“ gilt. Plötzlich sind höhere Rüstungsausgaben kein Streitpunkt mehr. Reservistenprogramme, Pflichtdienste, digitale Überwachung zur Gefahrenabwehr – alles erhält eine neue Selbstverständlichkeit.
Zwischen Alarmismus und Naivität – Eine neue Debatte ist nötig
Was hier geschieht, ist nicht per se falsch oder verwerflich. Aber es ist gravierend. Und es sollte nicht unkommentiert bleiben. Die Welt ist gefährlicher geworden, keine Frage. Doch gerade deshalb ist es umso wichtiger, dass Demokratien wie Deutschland wachsam bleiben – nicht nur gegenüber äußeren Gefahren, sondern auch gegenüber inneren Entwicklungen.
Eine Gesellschaft, die über Sicherheit spricht, muss auch über Freiheit sprechen. Sie muss über Verhältnismäßigkeit, politische Ziele und Alternativen debattieren dürfen – ohne moralischen Druck oder Stigmatisierung. Es ist legitim, sich auf mögliche Krisen vorzubereiten. Aber es ist ebenso legitim zu fragen, ob dabei vielleicht bereits ein Bild gezeichnet wird, das der Realität vorausgreift – und uns gedanklich auf eine Zukunft einstimmt, die wir vielleicht noch verhindern könnten.
Es ist Zeit für eine offene Diskussion darüber, was „kriegstüchtig“ in einer Demokratie wirklich bedeutet – und wo die Linie verläuft zwischen realistischer Vorbereitung und der schleichenden Gewöhnung an das Undenkbare.