Droht Europa der Ernstfall ohne Amerika?

Russland und die rote Linie
Ein offener Krieg zwischen Russland und der NATO ist bislang nur ein Schreckensszenario. Doch sollte Moskau jemals den Schritt wagen, stünde Europa vor einer historischen Zäsur. Artikel 5 des NATO-Vertrags verpflichtet jedes Mitglied, im Ernstfall beizustehen. Das bedeutet: Ein Angriff auf das Baltikum oder Polen wäre nicht nur ein Schlag gegen diese Staaten, sondern gegen alle. Russland müsste sich dann einer Allianz stellen, die noch immer die stärkste Militärmacht der Welt darstellt.
Doch die eigentliche Unsicherheit liegt nicht in Moskau, sondern in Washington. Denn seit Donald Trump wieder im Weißen Haus sitzt, stellt sich Europa die Frage: Würden die USA tatsächlich helfen?
Wenn Amerika eingreift
Greift Russland gezielt NATO-Gebiet an, etwa im Baltikum, und die USA reagieren sofort mit klarer Unterstützung, dann entfaltet die Abschreckung ihre volle Wirkung. US-Truppen würden in Osteuropa verstärkt, Luftwaffe und Marine präsent sein, und auch europäische Partner wie Polen, Deutschland oder Frankreich würden mitziehen. In diesem Szenario wüsste Moskau, dass jeder Schritt weiter nach Westen eine Konfrontation mit einer geschlossenen Front bedeuten würde. Das Risiko wäre zu groß, der Konflikt würde wahrscheinlich auf begrenzte Gefechte beschränkt bleiben.
Wenn Amerika zögert
Ganz anders sähe es aus, wenn Trump die Beistandsverpflichtung infrage stellt. Sollte er erklären, dass Europa „seine eigenen Angelegenheiten“ regeln solle, weil zu wenige Länder die zwei Prozent Verteidigungsausgaben einhalten, entstünde eine gefährliche Lücke. Polen und das Baltikum würden sofort reagieren, Großbritannien wohl auch. Doch Deutschland und Frankreich müssten erst den inneren Ruck finden, ihre lange gewachsenen Hemmungen abzulegen. In dieser Zwischenzeit könnte Russland vollendete Tatsachen schaffen – sei es durch die Besetzung von Grenzgebieten oder durch massive hybride Angriffe, die Europa spalten.
Ein Kontinent am Scheideweg
Die entscheidende Frage lautet also nicht nur, ob Russland angreift, sondern wie geschlossen die NATO reagiert. Mit den USA an der Seite bliebe die Abschreckung stark, ohne sie wäre Europa verletzlich wie nie seit Ende des Kalten Krieges. Für Moskau wäre das eine Einladung, Grenzen auszutesten.
Europa steht damit vor einer historischen Herausforderung: sich entweder auf die Verlässlichkeit Amerikas zu verlassen oder endlich den eigenen Schutzschirm so aufzubauen, dass kein Gegner mehr an der Geschlossenheit zweifeln kann.