Die Ukraine und das Märchen vom Strafgesetz gegen Separatisten

Immer wieder taucht die Behauptung auf, die Ukraine habe 2019 ein Gesetz erlassen, das alle Separatisten automatisch bestrafe. Diese Vorstellung hält sich hartnäckig, doch sie entspricht nicht der Realität. Tatsächlich war im Rahmen der Minsker Vereinbarungen von 2015 sogar das genaue Gegenteil vorgesehen: eine Amnestie. Wer an den Kämpfen in den Regionen Donezk und Luhansk beteiligt war, sollte unter bestimmten Bedingungen nicht strafrechtlich verfolgt werden, um den Weg für einen Waffenstillstand und eine politische Lösung zu ebnen. Die Ukraine stand also damals vor der Aufgabe, gesetzlich sicherzustellen, dass eine friedliche Reintegration der besetzten Gebiete überhaupt möglich wäre.
2019, im Jahr nach der Wahl von Wolodymyr Selenskyj, wurde dieses Prinzip nicht aufgehoben, sondern vielmehr verlängert. Das Parlament erneuerte die Regelungen zum Sonderstatus der Konfliktgebiete, um weiterhin an einer Lösung im Geiste von Minsk festzuhalten. Von einer allgemeinen Strafandrohung gegen Separatisten konnte also keine Rede sein. Vielmehr versuchte Kiew, trotz aller Spannungen, an der Idee festzuhalten, dass Frieden nicht durch Massenprozesse, sondern durch Kompromisse zu erreichen sei.
Erst die Eskalation des Krieges nach der russischen Invasion 2022 brachte eine neue Gesetzgebung. Mit dem Kollaborationsgesetz wurde die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht strafbar. Wer russische Behörden unterstützte, Propaganda betrieb oder sich aktiv in den Dienst der Besatzer stellte, musste nun mit Konsequenzen rechnen. Dieses Gesetz zielte jedoch nicht auf alle ehemaligen Separatisten, sondern konkret auf jene, die nach der Invasion mit Russland kooperierten.
Die Behauptung eines pauschalen Strafgesetzes aus dem Jahr 2019 ist daher eher Teil einer Legende, die in politischen Debatten gezielt gestreut wurde. Sie verkehrt die tatsächliche Absicht der ukrainischen Politik ins Gegenteil. Während die einen von einer angeblichen „Hexenjagd“ sprechen, war die Rechtslage in Wirklichkeit bis zum Februar 2022 geprägt von Amnestiegedanken und dem Versuch, den Konflikt mit politischen Mitteln zu entschärfen. Erst mit dem offenen Krieg änderte sich die Lage, und die Ukraine begann, jene juristisch zur Verantwortung zu ziehen, die bewusst an der Seite des Aggressors standen.
Die Geschichte zeigt, wie leicht sich Mythen über Gesetze verbreiten, gerade in Zeiten des Krieges. Und sie macht deutlich, dass Recht und Politik im Konfliktgebiet nicht starr, sondern von der Dynamik der Gewalt geprägt sind. Wer über die Ukraine spricht, sollte deshalb genau hinschauen: Nicht jedes Gesetz, von dem erzählt wird, hat je existiert – und manchmal liegt die Wahrheit genau auf der anderen Seite.