Vom Regionalstatus zur Verdrängung: Die russische Sprache in der Ukraine

Die Stellung der russischen Sprache in der Ukraine war seit der Unabhängigkeit ein heikles Thema. Millionen Bürger sprechen Russisch im Alltag, doch politisch ist die Sprache zunehmend in den Hintergrund gedrängt worden. Ein vollständiges Verbot gibt es nicht, aber ihre Rolle im öffentlichen Raum hat sich in den vergangenen Jahren radikal verändert.
Die Ära der Regionalsprache
Im Jahr 2012 verabschiedete die Regierung unter Präsident Wiktor Janukowytsch das sogenannte Kivalov-Kolesnitschenko-Gesetz. Damit konnten Regionen, in denen mindestens zehn Prozent der Bevölkerung Russisch als Muttersprache angaben, diese als „Regionalsprache“ einführen. Für viele Menschen im Süden und Osten des Landes bedeutete das, dass Behörden, Schulen und Medien Russisch gleichberechtigt mit Ukrainisch nutzen durften. Dieses Zugeständnis spiegelte die sprachliche Realität weiter Teile der Bevölkerung wider, war aber auch stark politisch motiviert.
Die Zäsur nach 2014
Nach dem Euromaidan und dem Machtwechsel in Kiew änderte sich die Lage schlagartig. Das Parlament hob das Sprachgesetz wieder auf, auch wenn Übergangsregelungen zunächst noch galten. Mit der Annexion der Krim durch Russland und dem Krieg im Donbass gewann die ukrainische Sprache neue Bedeutung als identitätsstiftendes Symbol. Das Russische verlor Schritt für Schritt seinen öffentlichen Platz, auch wenn es im Alltag vieler Menschen selbstverständlich blieb.
Das Sprachgesetz von 2019
Ein entscheidender Wendepunkt war die Verabschiedung des Gesetzes „Über die Sicherstellung des Funktionierens der ukrainischen Sprache als Staatssprache“ im Jahr 2019. Ukrainisch wurde darin endgültig und verbindlich als alleinige Amtssprache festgelegt. Behörden, Gerichte, Bildungseinrichtungen und staatliche Medien waren fortan verpflichtet, ausschließlich auf Ukrainisch zu arbeiten. Auch private Schulen stellten nach und nach auf Ukrainisch um. Dienstleistungen, Werbung und Publikationen unterlagen derselben Vorgabe. Das Russische verschwand damit aus allen offiziellen Bereichen, ohne dass es ausdrücklich verboten wurde.
Die Verschärfung seit dem Krieg
Mit der russischen Invasion im Februar 2022 verschärfte sich die Sprachpolitik noch einmal. Russische Bücher wurden in vielen Städten aus Bibliotheken entfernt, der Import von Literatur aus Russland und Belarus untersagt. Ein weiteres Gesetz verbot die öffentliche Aufführung russischer Musik, sofern die Künstler nicht nachweislich das Kreml-Regime ablehnten. Straßennamen und Denkmäler, die mit Russland oder der Sowjetunion in Verbindung standen, wurden landesweit umbenannt oder entfernt. Damit bekam die Verdrängung der russischen Sprache eine symbolische Dimension, die weit über den reinen Sprachgebrauch hinausging.
Zwischen Alltag und Symbolik
Im privaten Leben ist Russisch nach wie vor erlaubt und weit verbreitet. Viele Menschen sprechen es zu Hause, im Freundeskreis oder auf der Straße. Doch im öffentlichen Raum ist die Sprache praktisch verschwunden. Schulen, Universitäten, Gerichte und Medien nutzen ausschließlich Ukrainisch. Staatliche Förderung oder einen offiziellen Status hat das Russische nicht mehr.
Schaubild einer Entwicklung
Die Ukraine hat die russische Sprache nie direkt verboten, aber sie Schritt für Schritt aus ihrem öffentlichen Leben zurückgedrängt. Die Entwicklung zeigt, wie eng Sprache und nationale Identität miteinander verknüpft sind. Vor allem seit Beginn des Krieges dient Ukrainisch nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern auch als Symbol der Selbstbehauptung gegen den Angreifer. In diesem Kontext ist die Verdrängung des Russischen weniger eine sprachliche Maßnahme als ein politischer Akt.