Generation Regelheft – Wie die Jungen zu den neuen Spießern wurden

Früher trugen sie Cordhosen, hörten den Deutschlandfunk und gossen sonntags die Geranien: Spießer, das waren die anderen. Die älteren. Die Langweiler mit Kleingarten und Panik vor allem Neuen. Heute sieht das anders aus. Wer die Augen aufmacht, erkennt: Der Spießer trägt jetzt Bauchtasche, trinkt Hafermilch und kann „problematisch“ buchstabieren – rückwärts.
Nein, das ist kein Boomer-Gemotze. Eher ein neugieriger Blick auf ein seltsames Paradox: Ausgerechnet die Generation, die sich selbst als besonders offen, tolerant und progressiv versteht, tritt mit einer geradezu spießbürgerlichen Regelstrenge auf. Sie grenzt ab, sie maßregelt, sie definiert genau, was gesagt, gedacht und gefühlt werden darf – und was nicht. Das erinnert weniger an die 68er als an ihre Eltern, die mit erhobenem Zeigefinger über Rasen betretende Kinder wachten.
Wer heute jung ist, meint es ernst. Sehr ernst. Es wird gegendert, gewacht, gewarnt. Vor dem Film bitte Triggerhinweise. Nach der Party: Awareness-Team. Beim Poetry Slam: Kein Humor auf Kosten marginalisierter Gruppen. Beim Dating: Konsens in dreifacher Ausführung. Alles wichtig. Alles gut gemeint. Nur – leicht ist das alles nicht. Schon gar nicht lustig. Und das ist vielleicht der entscheidende Unterschied zu früheren Bewegungen: Es fehlt die Leichtigkeit des Regelbruchs. Die Freude am Widerspruch. Die Lust, mit Normen zu spielen, statt neue aufzustellen.
Manchmal wirkt es, als habe die heutige Jugend das große Bedürfnis, moralisch alles richtig zu machen – bis hin zur Selbstoptimierung in Sachen Haltung. Wer in den 80ern „Spießer“ genannt wurde, hörte Depeche Mode und trug zerrissene Jeans. Heute wird man so genannt, wenn man beim Gendern kurz stockt oder die richtige Pride-Flagge verwechselt.
Spießer 2.0 sind keine Spießgesellen mehr, sondern Haltungshüter. Sie sortieren Bücher aus, wenn der Autor sich falsch geäußert hat. Sie lesen Tweets wie einst andere Knigge. Sie wissen, wie viele Sekunden man jemanden beim Gespräch anschauen darf, ohne dominant zu wirken. Ihre Welt ist nicht eng – aber streng.
Ist das schlimm? Nicht unbedingt. Vielleicht ist das der Preis für eine gerechtere, aufgeklärtere Gesellschaft. Vielleicht braucht Fortschritt gerade in Übergangszeiten eine Art hyperbewusste Spießigkeit, bevor sich alles wieder entspannt. Aber es ist schon interessant, wie schnell sich das Karussell dreht: Die Revoluzzer von gestern sind die Ordnungsbeauftragten von heute. Nur dass der Ordnungsruf nicht mehr „Ruhe!“ heißt, sondern „Check your privilege!“.
Vielleicht ist das die wahre Ironie unserer Zeit: Die Jungen haben die Welt verändert – und ausgerechnet dabei ein regelgetreues Pflichtbewusstsein entwickelt, das sie früher bei ihren Eltern verachtet hätten.