Braucht Europa den Krieg? Wenn TikTok-Videos gefährlich vereinfachen

Braucht Europa den Krieg? Wenn TikTok-Videos gefährlich vereinfachen

Auf Plattformen wie TikTok kursieren derzeit Videos, die behaupten, Europa brauche den Krieg – und eskaliere deshalb bewusst. Solche Aussagen klingen nach einer großen Enthüllung, nach einem Blick hinter die Kulissen. Tatsächlich aber handelt es sich um ein bekanntes Muster: komplexe politische Entwicklungen werden auf eine schlichte Verschwörung reduziert.

Die Realität sieht grundlegend anders aus. Europa ist ein Kontinent, der in den vergangenen Jahrzehnten vor allem vom Frieden profitiert hat. Offene Märkte, grenzüberschreitender Handel, stabile Gesellschaften – all das basiert auf der Abwesenheit von Krieg. Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, wird jedoch deutlich, wie zerstörerisch ein Krieg für Europa ist. Energiepreise sind explodiert, die Inflation hat Verbraucher und Unternehmen hart getroffen, und viele Staaten sehen sich gezwungen, Milliardenpakete zur Abfederung der Folgen zu schnüren. Von einem „Profit“ kann keine Rede sein.

Ja, es stimmt, dass einzelne Rüstungsunternehmen Gewinne verzeichnen. Verteidigungsbudgets steigen, weil die Bedrohungslage real ist. Doch daraus abzuleiten, Europa als Ganzes brauche Krieg, ist irreführend. Rüstungsindustrie ist ein winziger Teil der europäischen Wirtschaft. Der weitaus größere Teil – vom Mittelstand über die Landwirtschaft bis hin zu den Exportbranchen – leidet unter Instabilität. Politisch zeigt sich das ebenso: Kriege führen zu Flüchtlingsbewegungen, sie belasten die Solidarität innerhalb der EU und stärken extremistische Stimmen. Regierungen, die ohnehin mit Inflation, Energieknappheit und sozialen Spannungen kämpfen, haben keinerlei Interesse daran, eine Eskalation herbeizuführen.

Das Narrativ „Europa braucht den Krieg“ verdreht zudem Ursache und Wirkung. Der Krieg in der Ukraine ist nicht von der EU oder Europa begonnen worden, sondern durch den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands ausgelöst worden. Europa reagiert darauf, versucht, seine Sicherheit zu wahren und Solidarität mit einem angegriffenen Nachbarn zu zeigen. Aus dieser Reaktion einen angeblichen Plan zur bewussten Eskalation zu konstruieren, blendet den zentralen Auslöser aus.

Solche vereinfachenden Behauptungen sind gefährlich, weil sie Zweifel an demokratischen Institutionen säen und Misstrauen schüren. Sie bedienen das Bedürfnis nach einer schnellen Erklärung in einer komplizierten Welt – und nutzen das Kalkül, dass sich einfache Geschichten auf sozialen Medien besser verbreiten als differenzierte Analysen. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Europa braucht keinen Krieg. Europa braucht Stabilität, und es zahlt derzeit einen hohen Preis für die Instabilität, die andere heraufbeschworen haben.

Mark Petersen