Ein Europa ohne Bismarck – Die vergessene Einheit
Stellt euch ein Europa vor, das nie von einem deutschen Kaiser regiert wurde. Kein Otto von Bismarck, kein Reich von 1871, kein militarisiertes Preußen, das halb Europa in die Katastrophe stürzt. Stattdessen: Ein Flickenteppich aus Herzogtümern, Königreichen und Fürstentümern – ein Europa, das seine Zersplitterung nie überwand.
Der Mann, der fehlte
Ohne Otto von Bismarck fehlt der Architekt, der aus dem Deutschen Bund ein geeintes Kaiserreich hätte formen können. Keine Schlacht bei Königgrätz 1866, kein Deutsch-Französischer Krieg 1870, kein Kaiser Wilhelm I. in Versailles. Stattdessen bleibt Deutschland eine Ansammlung souveräner Staaten – Bayern, Sachsen, Preußen, Württemberg, Baden, Hannover – jeder stolz auf seine Geschichte, jeder misstrauisch gegenüber der Idee einer Einheit.
Der Deutsche Bund bleibt bestehen – schwach, konservativ, bürokratisch. Die „deutsche Frage“ bleibt unbeantwortet. Und genau dadurch ändert sich alles.
Kein großer Krieg
Ohne das vereinte Deutschland fehlt auch der Motor, der Europa in den Ersten Weltkrieg treibt. Es gibt keinen aggressiven Nationalstaat mit moderner Armee, keinen imperialen Drang nach Weltgeltung, keinen Schlieffenplan.
Statt eines Weltkriegs erlebt Europa eine Reihe regionaler Konflikte – der Zerfall des Osmanischen Reiches, der Unabhängigkeitskampf in Irland, kleinere Balkankriege. Doch der große, alles vernichtende Sturm von 1914 bleibt aus.
Und mit ihm: Kein Versailler Vertrag. Kein Hitler. Kein Zweiter Weltkrieg. Keine Shoah. Keine geteilte Welt.
Ein anderes 20. Jahrhundert
Die Monarchien überleben länger. Die Habsburger, die Romanows, selbst der osmanische Sultan – sie modernisieren sich zögerlich, passen sich an, statt zu kollabieren. Die industrielle Revolution schreitet voran, doch sie ist regionaler, fragmentierter.
Deutschland bleibt technologische Spitzenregion – aber dezentral: Die Chemie in Baden, die Elektrotechnik in Preußen, die Philosophie in Sachsen, das Bierbrauen in Bayern. Statt einer deutschen Nation gibt es eine deutsche Vielfalt, wirtschaftlich stark, politisch gespalten.
Europa entwickelt sich zum Kontinent der Kleinstaaten, ein modernes Heiliges Römisches Reich, mit digitalem Passwesen, eigenen Zöllen und individuellen Feiertagen.
Der Alltag im Jahr 2025
Wer heute durch Europa reist, muss zwischen über 80 souveränen Staaten passieren. Von der Republik Florenz zur Königlich-Bayerischen Monarchie. Von der Freien Hansestadt Hamburg bis zur Eidgenossenschaft der Schwarzwälder Kantone. Jeder Staat hat eigene Gesetze, ein eigenes Bildungssystem – und eine eigene Identität.
Die junge Lehrerin Maria lebt in München, Hauptstadt des Königreichs Bayern. Sie unterrichtet Geschichte – und ihre Schülerinnen lernen nichts von einem Kaiserreich, von Weltkriegen oder Holocaust. Dafür viel über regionales Brauchtum, Ludwig II., die Unabhängigkeit Württembergs und die komplizierte Geschichte der Zollerbündnisse mit Preußen.
Wer über das Internet shoppen will, muss oft internationale Zölle zahlen – eine Bestellung von Dresden nach Köln dauert drei Tage. Politische Debatten drehen sich um lokale Themen: Milchpreise in Allgäu, Eisenbahnausbau nach Salzburg, die Wiederaufnahme der Zollverhandlungen mit Baden.
Europa ohne EU
Die Europäische Union, wie wir sie kennen, gibt es nicht. Kein Euro, kein Brüssel, kein Binnenmarkt. Stattdessen existiert eine Europäische Konföderation, ein loser Bund souveräner Staaten, die sich zu jährlichen Gipfeltreffen in Wien oder Prag versammeln. Beschlüsse sind freiwillig, oft folgenlos.
Grenzen sind offen – meistens. Doch nationale Eigeninteressen dominieren. Die Staaten sind klein, aber stolz. Ihre Regierungen nationalistisch, aber nicht radikal. Ihr Zusammenleben kompliziert, aber friedlich.
Was wäre gewonnen – und was verloren?
Diese Welt kennt keine Weltkriege, keine totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Millionen Menschen leben, die in unserer Realität starben. Jüdische Gemeinden existieren weiterhin von Krakau bis Wien. Es gibt keine Berliner Mauer, kein Auschwitz, kein D-Day.
Aber es gibt auch kein geeintes Europa, keine gemeinsame Stimme in der Weltpolitik, keine gemeinsame Währung. Der Kontinent ist träger, vorsichtiger, vielleicht auch provinzieller. Die großen Ideen – Gleichheit, Brüderlichkeit, Integration – haben weniger Macht.
Europa ist friedlicher, aber langsamer. Stabiler, aber zersplitterter. Menschlicher, vielleicht – aber mit weniger globalem Einfluss.
Ein Europa der Möglichkeiten
Was bleibt, ist ein Europa voller Stimmen, voller Widersprüche, voller lokaler Farben. Kein Imperium, kein Block – sondern ein Konzert von Nationen, das manchmal dissonant klingt, aber nie völlig verstummt.
Ein Europa, das Bismarck nie kannte – und das vielleicht gerade deshalb überlebt hat.
