Die Tyrannei der Worte – Wie eine Formulierung zum Symbol einer gescheiterten Corona-Politik wurde

Die Tyrannei der Worte – Wie eine Formulierung zum Symbol einer gescheiterten Corona-Politik wurde

Als Frank Ulrich Montgomery, Präsident des Weltärztebundes, im November 2021 in der Talkshow Anne Will den Begriff „Tyrannei der Ungeimpften“ in die Runde warf, traf er einen Nerv – aber auch einen wunden Punkt. Die Pandemie war längst in einer neuen Phase angekommen: steigende Infektionszahlen trotz Impfkampagne, zunehmende gesellschaftliche Erschöpfung, eine Politik im Modus der Wiederholung. Montgomerys Wortwahl war nicht nur provokant, sie wurde zum Symbol: für eine Strategie, die immer weniger mit medizinischer Evidenz zu tun hatte – und immer mehr mit Spaltung, Sturheit und Symbolpolitik.

Die Aussage war in ihrer Zuspitzung klar: Eine kleine Gruppe, so Montgomerys Argument, halte durch ihre Weigerung, sich impfen zu lassen, das ganze Land in Geiselhaft. Der Begriff der „Tyrannei“ suggeriert dabei nicht nur Unvernunft, sondern bewusstes Handeln gegen das Gemeinwohl – eine moralische Aufladung, die weit über sachliche Argumentation hinausging. Während viele Geimpfte sich in ihrer Frustration bestätigt fühlten, warnten andere – darunter Ethiker, Juristen und auch manche Mediziner – vor einer gefährlichen Rhetorik. Wer Ungeimpfte pauschal als Schuldige markiere, verliere sie für jede Form von Dialog.

Problematisch war aber nicht nur die Wortwahl selbst, sondern der Kontext, in dem sie gefallen ist. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt war bekannt: Auch Geimpfte können sich mit dem Coronavirus infizieren und es weiterverbreiten. Der Schutz vor schweren Verläufen war nach wie vor gegeben – das war der eigentliche medizinische Gewinn der Impfung. Doch der Glaube an eine sogenannte „sterile Immunität“, also dass Geimpfte das Virus nicht mehr weitergeben, hatte sich spätestens mit der Delta-Variante als Illusion erwiesen. Trotzdem hielt die Politik an Maßnahmen fest, die genau diesen Unterschied weiterhin betonten: 2G-Regeln, Zutrittsverbote, Testpflicht nur für Ungeimpfte. Der Impfnachweis wurde zum Passierschein für gesellschaftliche Teilhabe – unabhängig vom realen Infektionsgeschehen.

In diesem Klima wurde Montgomerys Satz zu mehr als nur einer medizinischen Meinung. Er spiegelte den Geist einer Politik, die sich zunehmend in Lagerdenken verstrickt hatte: hier die Vernünftigen, dort die Egoisten. Das war bequem, aber gefährlich. Denn es ignorierte die vielfältigen Gründe, warum Menschen sich nicht impfen ließen – von medizinischen Bedenken über mangelndes Vertrauen bis hin zu Versäumnissen in der Aufklärung. Statt differenzierter Kommunikation setzte man auf Druck. Und als die erhoffte Wirkung ausblieb, wurde der Ton schärfer.

Die Corona-Politik jener Monate war geprägt von einer seltsamen Mischung aus Beharrung und Aktivismus. Man wusste, dass der Impfschutz gegen Ansteckung begrenzt war – und handelte trotzdem so, als ließe sich die Pandemie durch das Ausgrenzen der Ungeimpften kontrollieren. Dabei wurde nicht nur medizinische Evidenz zunehmend ignoriert, sondern auch gesellschaftlicher Zusammenhalt aufs Spiel gesetzt. Wer nicht geimpft war, galt in Teilen der Debatte nicht mehr als Mitbürger, sondern als Bedrohung.

Der Begriff „Tyrannei der Ungeimpften“ war nicht nur unglücklich. Er war ein Symptom für ein tiefer liegendes Versagen: das Unvermögen, eine komplexe Lage mit kluger, empathischer und lernfähiger Politik zu begleiten. Stattdessen herrschte ein Hang zur Vereinfachung, zur Moralisierung – und zur Macht der Schlagworte. Montgomerys Satz wurde zur Parole, und die Politik zur Echokammer.

Dass heute viele Menschen mit Misstrauen auf staatliche Gesundheitskommunikation blicken, hat auch mit jenem Moment zu tun. Nicht allein wegen eines Wortes, sondern wegen dessen, was es freilegte: die Sprachlosigkeit einer Politik, die aus einem medizinischen Problem eine gesellschaftliche Front gemacht hat.

Mark Petersen