Zweimal erwacht – Die arabische Aufklärung und ihr langer Weg

Wenn wir von „Aufklärung“ sprechen, denken viele sofort an Kant, Voltaire oder Rousseau. Europa, 18. Jahrhundert, Federkiel und Freiheit. Doch wer ein wenig genauer hinsieht, erkennt: Auch die arabische Welt hat ihre eigenen Kapitel der Aufklärung – und das gleich zweimal. Beide Male ging es um die gleiche große Frage: Wie können Wissen, Vernunft und Fortschritt gegen Stillstand und Dogma bestehen?
Die erste Blüte: Als Bagdad das Licht der Welt war
Im 8. bis 13. Jahrhundert war die islamische Welt das, was Europa noch werden sollte: ein Ort des Denkens, Forschens und Fragens. In Städten wie Bagdad, Kairo oder Cordoba sammelten sich Gelehrte, die die Schriften der Griechen nicht nur übersetzten, sondern weiterdachten.
Namen wie Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Ibn Rushd) stehen für Medizin, Logik, Philosophie und Astronomie. In den riesigen Bibliotheken und „Häusern der Weisheit“ wurde die Welt vermessen, erklärt – und immer wieder hinterfragt.
Europa lernte von dieser geistigen Bewegung, als es selbst noch im Schatten der Scholastik verharrte. Ironie der Geschichte: Als in Paris noch Dämonen ausgetrieben wurden, operierten Ärzte in Damaskus nach systematischer Anamnese.
Doch dieses „Goldene Zeitalter“ endete. Politische Umwälzungen, Invasionen und ein erstarkter Konservatismus führten dazu, dass freies Denken zunehmend misstrauisch beäugt wurde. Die Bewegung erstickte – nicht aus Mangel an Intelligenz, sondern an Freiheit.
Das zweite Erwachen: Die Nahda des 19. Jahrhunderts
Jahrhunderte später, im 19. Jahrhundert, flammte erneut ein Funke auf. Unter dem Druck europäischer Kolonialmächte, aber auch durch neuen Handel, Übersetzungen und Reformbewegungen begann die sogenannte Nahda – was auf Arabisch „Wiedererwachen“ bedeutet.
Intellektuelle wie Rifaʿa at-Tahtawi, Muhammad Abduh oder Butrus al-Bustani warfen sich in die Debatte:
Wie lässt sich der Islam mit moderner Bildung und Wissenschaft vereinbaren?
Wie kann man gesellschaftlichen Fortschritt schaffen, ohne die eigene Identität zu verlieren?
Zeitungen, Schulen, Romane – alles wurde neu gedacht. Frauenrechte wurden diskutiert, Verfassungen entworfen, neue Begriffe geprägt. Die Nahda war eine arabische Aufklärung auf eigene Art, kein bloßer Abklatsch der europäischen.
Doch auch dieses Aufbegehren wurde gebremst. Koloniale Interessen, interne Machtkämpfe, später Diktaturen und Ideologiekämpfe ließen viele Hoffnungen verpuffen.
Und heute?
Die Frage, wie sich Vernunft und Glaube, Moderne und Identität, Bildung und Tradition vereinen lassen, ist in der arabischen Welt nicht gelöst – aber lebendig. In Debatten, in Büchern, in Protesten, in jungen Stimmen, die nicht müde werden, die Dinge zu hinterfragen.
Die arabische Aufklärung ist keine abgeschlossene Epoche. Sie ist ein offener Prozess, mit Rückschlägen, aber auch mit Hoffnung. Vielleicht ist das ihre wahre Stärke:
Nicht, dass sie einmal groß war – sondern dass sie immer wieder versucht, neu zu beginnen.